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Menschen früherer Generationen malten sich das Jahr 2020 wohl wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film aus: mit dienstbeflissenen Robotern im Haushalt, selbstfahrenden und selbstfliegenden Transportmitteln auf der Straße und am Himmel und audiovisueller Unterhaltung, die den Menschen in virtuelle Welten eintauchen lässt. In unseren von der COVID-19-Pandemie gebeutelten Zeiten scheint im Jahr 2020 all dies ferner denn je. Doch tatsächlich nähern wir uns mit Industrie 4.0 Stück für Stück dieser Vision.
Der Begriff Industrie 4.0 wurde bereits 2013 in Deutschland geprägt, wo man erkannt hatte, dass die Entwicklungen im Bereich der Netzwerk- und Computertechnik und die Entstehung einer verlässlichen Infrastruktur die Voraussetzungen für eine neue industrielle Revolution geschaffen hatten. Durch sogenannte Cyber-physische Systeme, so die Prämisse, würde sich unser Leben in all seinen Aspekten grundlegend verändern. Der Begriff fand bald Eingang in die Entwicklungsstrategien zahlreicher Länder, die in der Verknüpfung von Industrialisierung und Informatisierung neue Wachstumspotentiale auf Basis der traditionellen Industrie- und Dienstleistungssektoren sahen.
Industrie 4.0 geht mit einer Welle von Innovationen einher. Im Bereich Software ermöglicht Augmented Reality völlig neue audiovisuelle Erfahrungen. Diese Technik findet bereits in der Ausbildung spezieller Berufe Anwendung (z. B. bei der Polizei und im medizinischen Bereich). Im Internet der Dinge kommen Sensorcluster zum Einsatz, mit denen sich elektronische Geräte umfassend überwachen und steuern lassen. Durch Fortschritte bei den Sicherheitstechnologien für Unternehmensnetzwerke können Hackerangriffe rechtzeitig entdeckt und abgewehrt werden. Im Bereich Hardware finden 3D-Drucker Verbreitung, mit deren Hilfe auch Privatpersonen aus digitalen Zeichnungen schnell physische Objekte herstellen können. Der Einsatz von Industrierobotern erhöht die Standardisierung und Effizienz in der Fertigung.
Im Kern dreht sich bei Industrie 4.0 alles um Daten und die Technologien des maschinellen Lernens, die damit eng verknüpft sind. Sensoren erfassen Daten und geben diese per Internet an einen Cloud-Server weiter, wo sie durch Algorithmen des maschinellen Lernens und künstlicher Intelligenz analysiert werden. Am Ende des Prozesses wird das Ergebnis an die Benutzerseite oder einen Industrieroboter gemeldet. Zu den Anwendungsszenarien von Industrie 4.0 gehören Interaktion mit dem Kunden, Produktfertigung, Qualitätskontrolle, logistische Abfertigung und das Einholen von Feedback beim Anwender. In jedem Arbeitsschritt spielen Daten und maschinelles Lernen eine zentrale Rolle.
Das Kundenbild
Schon heute sammeln und analysieren viele Programme auf dem Smartphone oder dem Computer bereits Kundendaten, und auch stationäre Geschäfte verwenden zum Teil RFID-Chips, um die Vorlieben ihrer Kunden aufzuzeichnen. Solche Kundendaten werden dann mit Hilfe von Verfahren wie Empfehlungsalgorithmen analysiert, um Kunden passende Produkte und Inhalte anzubieten oder diese zu verbessern. Bei Industrie 4.0 wird eine große Bandbreite von Kundendaten erfasst: zum Beispiel die Häufigkeit der Nutzung, die Präferenzen des Kunden, der Modus oder wann die Benutzung erfolgt. Daten dieser Art können von Smartphone-Apps kommen, aber auch von Haushaltsgeräten, Bürogeräten oder medizinischen Apparaten. Maschinelles lernen generiert aus diesen Daten eine Vielzahl von Labels, die bestimmten Benutzermerkmalen entsprechen. So entsteht ein vieldimensionales Benutzerbild, das sich Stück für Stück verfeinern lässt.
Der Fertigungsprozess
Ein genaues Nutzer- oder Kundenbild eröffnet vollkommen neue Möglichkeiten bei der Personalisierung der Fertigung. Wer heutzutage im Internet surft, sieht Inhalte, die anhand von Nutzerdaten personalisiert wurden. Im Zeitalter von Industrie 4.0 werden detaillierte Nutzerinformationen auch bei der Fertigung von Produkten unmittelbar berücksichtigt. Herstellern können so Produkte fertigen, die perfekt auf die individuellen Anforderungen ihrer Kunden zugeschnitten sind. Auch lassen sich aus Nutzerdaten Bedarfsprognosen ableiten, anhand derer wiederum individualisierte Produkte entwickelt werden können. Kunden erhalten auf diese Weise Zugriff auf eine ungeahnte Produktvielfalt.
Industrie 4.0 wird jedoch nicht nur die Produktplanung, sondern auch die Produktionsabläufe selbst beeinflussen. Die Steuerung der einzelnen Fertigungsschritte wird durch die universelle Vernetzung und den Einsatz von Industrierobotern vollständig automatisiert werden. Jeder Fertigungsschritt wird in Verbindung mit dem Status des vorherigen Schritts und der Produktnachfrage analysiert und zeitnah fein abgestimmt. In einer solchen intelligenten Fabrik wird sich mit zunehmender Steuerbarkeit und Robustheit der Fertigungslinien auch die Rolle der Arbeiter von monotonen Arbeitsabläufen hin zu einer Überwachung der Roboter verschieben. Der Elektroautohersteller Tesla setzt seit der Firmengründung auf das Konzept der intelligenten Fabrik und hat nicht nur die Fertigungslinien vollständig mit Industrierobotern ausgestattet, sondern wickelt auch Lager- und Materialverwaltung, Bestellungen und Vertrieb mit hochgradig intelligenten Systemen ab. Tesla sicherte sich damit eine Stellung als Marktführer in Sachen Technologieeinsatz und Absatzzahlen.
Qualitätssicherung
Neben der Analyse und Überwachung von Prozessdaten ermöglicht die Kombination von maschinellem Lernen und maschinellem Sehen auch die automatische und massenhafte Durchführung hochpräziser Produktprüfung. Besonders relevant ist dies für die Erkennung komplexer Defekte, die dem menschlichen Auge leicht entgehen. Die auf KI-Algorithmen spezialisierte Firma Landing AI, die von dem bekannten KI-Experten Professor Andrew Ng geführt wird, stellte vor kurzem ein System vor, das mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und maschinellem Sehen Luftblasen in einem Wasserbad erkennt. Die Technik kommt bei der Dichtheitsprüfung von Produkten zum Einsatz. Das System erfasst dabei kleinste Luftblasen mit hoher Genauigkeit und findet so undichte Stellenweitaus zuverlässiger als die Sichtprüfung durch Werker, deren Fehlerquote bei 30 % liegt.In Verbindung mit Daten aus dem Produktionsprozess ermöglicht diese Technik nicht nur das schnelle und genaue Auffinden von Defekten und deren Zuordnung zu einem bestimmten Fertigungsschritt, sondern auch eine erhebliche Senkung der Personalkosten und der Fehlerquote bei der Produktprüfung.
Schnelle Logistik
Am Ende des Produktionsprozesses steht die Vorbereitung für die Logistik. Hier können Industrieroboter das fertige Produkt automatisch verpacken und mit einem spezifischen QR-Code versehen, der Produktdaten, die Zustelladresse und andere Informationen enthält, um so den Versand zu erleichtern. Beim Versand werden künftig selbstfahrende Systeme eine große Rolle spielen. Das autonome Fahren, das auf Technologien wie dem computergestützten Sehen, dem maschinellen Lernen und intelligenten Steuerungen basiert, wird schätzungsweise in den nächsten 10-15 Jahren die vollständige Marktreife erreichen. Dies verspricht hohe Effizienzgewinne bei Transport und Logistik und eine erhebliche Senkung der Personalkosten. Der chinesische E-Commerce-Gigant Alibaba nahm bereits 2017 das erste mit intelligenten Robotern ausgestattete Lagerhaus in Betrieb. Seine Logistiktochter Cainiao setzt nach und nach Technologien wie die Paketannahme per Gesichtserkennung und die Auslieferung mit Drohnen um. Ende 2019 war Cainiao bereits geschätzte 200 Mrd. Yuan Renminbi (ca. 25 Mrd. Euro) wert. Wenn sich die Erwartungen an das Internet der Dinge und das autonome Fahren erfüllen, so werden schon in naher Zukunft „Pakete ihren Adressaten suchen“ anstatt umgekehrt.
Service und Feedback
Auf der Kundenseite können von Sensorsystemen übertragene Produktdaten in der Cloud durch maschinelles Lernen analysiert und auf Unregelmäßigkeiten geprüft werden. So lässt sich in Echtzeit überwachen, ob ein Produkt korrekt funktioniert. Wenn der Kunde im Gebrauch auf ein Problem stößt, kann ein gut trainiertes KI-System per Chat, Telefon oder Video Anfragen von Benutzern in kürzester Zeit exakt beantworten und lösen. Das 2018 vorgestellte BERT-Modell zur Verarbeitung natürlicher Sprache übertrifft Menschen bereits bei Leseverständnis-Tests und findet schon heute in Produkten großer Internet-Giganten (z. B. bei Microsoft Xiaoice, Ali Xiaomi oder IBM Watson) und KI-Startups (4Paradigm, iFlytek u. a.) Anwendung.
Aus den genannten Anwendungen lassen sich gewisse Schlüsseleigenschaften von Industrie 4.0 ableiten:
Integration und Vernetzung
Industrie 3.0 und die Verbreitung des Computers bedeuten weltweit per Internet vernetzte Maschinen. Demgegenüber bedeutet Industrie 4.0 die Vernetzung der Maschinen: Alle Geräte und Anlagen sind mit Sensoren ausgestattet und kommunizieren untereinander. In der Druck- und Färbeindustrie ist das Kernstück der Produktion ein Steuerungssystem, das die Verteilung der Mutterlauge auf die einzelnen Fließbänder, die Positionierung des Farbstoffs, das automatische Abtropfen, die automatische Wasserversorgung, das Proofsystem usw. steuert. Dadurch werden ein intelligentes Färben, ein starker Anstieg der Produktionseffizienz und eine hohe Produktstabilität realisiert. Durch die Kombination mit Cyber-physischen-Systemen und cloudgestützten Machine Learning Engines entsteht eine Umgebung, in der alles mit allem nahtlos vernetzt ist: Menschen mit Menschen, Menschen mit Maschinen, Maschinen mit Maschinen und Dienstleistungen mit Dienstleistungen. Das „Vernetztsein“ wird zum Normalzustand und alle Glieder der Produktionskette von der Fertigung bis zum Service – Anlagen, Fertigungsstraßen, Fabriken, Kundendienst und vieles mehr – wachsen enger zusammen.
Daten und Digitalisierung
In der Welt von Industrie 4.0 werden Daten zum Lebenselixier der Industrie, denn ohne sie ist die Digitalisierung unmöglich. Dabei geht es um Daten aus allen Bereichen von Produktion und Service: unter anderem Produktdaten, Daten von Anlagen, Daten aus der Forschung und Entwicklung, Daten zur Lieferkette und zum Betrieb sowie Kundendaten. Zum einen sind solche Daten unerlässlich, um die Algorithmen des maschinellen Lernens zu trainieren und zu optimieren. Zum anderen müssen diese Algorithmen, sobald sie im Einsatz sind, ständig mit neuen Daten gefüttert werden, um die Produktionsprozesse steuern zu können. Hierfür ist es notwendig, die Welt um uns und die Produktion in all ihren Aspekten möglichst genau digital abzubilden und dabei sinnvolle Parameter zum Quantifizieren zu verwenden. Nur so lassen sich automatisierte Systeme überhaupt implementieren. Datenwissenschaftler müssen daher bei der Konzeption von Prozessen stets bedenken, welche Daten tatsächlich verfügbar sind und in welcher Form diese vorliegen, und Systeme so auslegen, dass sie die Erfassung passender Daten ermöglichen. Gleichzeitig gilt es, geeignete Parameter zu finden.
Präzisierung und Personalisierung
Im Zuge von Industrie 4.0 werden die Anforderungen an Datenflüsse immer spezifischer, was auch bedeutet, dass die Module der Produktion immer feiner differenziert werden. Diese hochgradig modularisierten Fertigungslinien sind die Voraussetzung für eine Personalisierung der Produktion. Durch eine bessere Berücksichtigung und Prognose von Kundenbedürfnissen entsteht ein positiver Kreislauf aus Produktion, Vertrieb und Feedback, so dass die Produkte den Kundenwünschen immer besser entsprechen.
Industrie 4.0 bietet eine Vielzahl neuer Chancen. Die virtuelle Integration des gesamten Produktionsprozesses ermöglicht im Umkehrschluss die Aufteilung des Arbeitsvolumens auf eine beliebige Zahl von Abteilungen oder sogar Unternehmen, die durch Daten miteinander verknüpft sind. Damit wächst die Bedeutung kleinerer Betriebe, die sich auf bestimmte Teilbereiche der Produktionskette spezialisiert haben. Genauso lässt sich eine intelligente Produktionsanlage in unterschiedliche Module zur Klassifizierung, Segmentierung und Trendprognose sowie zur Datenübertragung, Datenerfassung, Datenrückmeldung usw. aufteilen. Derartige Module sind in unterschiedliche Produktionsprozesse integrierbar, so dass zum Beispiel ein Datenerfassungsgerät zusammen mit anderen Präzisionsinstrumenten in einer Fertigungslinie verbaut sein kann. Gerade für kleinere Unternehmen ist dies eine Chance: Dank Industrie 4.0 können sie ihre Stärken in unterschiedlichen Marktsegmenten einbringen.
Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass der Infrastrukturausbau in den nächsten Jahren einen Boom erleben wird. Von der großen Bedeutung, welche der für Industrie 4.0 relevanten Infrastruktur bei der Wahrung von ökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen zukommt, zeugt der seit dem letzten Jahr andauernde Konflikt zwischen China und den USA um die 5G-Technologie ebenso wie die Schaffung eigener Cloud-Plattformen durch viele IT-Unternehmen in den letzten Jahren. Da Daten selbst eine wichtige Infrastruktur darstellen, sind die großen IT-Konzerne mit ihrem gigantischen Datenaufkommen deutlich im Vorteil. Dennoch können sich auch kleinere Firmen Nischen erobern, indem sie auf Bereiche der Produktion und des Alltags setzen, in denen der digitale Wandel bisher noch nicht Einzug gehalten hat. Derartige Chancen bestehen besonders in Branchen, die in der Digitalisierung hinterherhinken (zum Beispiel die traditionelle Schwerindustrie) oder in denen sich noch keine geeigneten Modelle der Nutzung von Big Data etabliert haben (etwa in der Medizin).
Die Erfordernisse, die Industrie 4.0 an die Digitalisierung und an das maschinelle Lernen stellt, sind für traditionelle Unternehmen jedoch oft auch eine Herausforderung. Für Konzerne, die in großem Maßstab industrielle Produktion betreiben, stellt die Ausrüstung der Fertigung mit Sensorik und IoT-Systemen einen beträchtlichen Kostenfaktor dar. Die Einbindung von Technologien des maschinellen Lernens in die Fertigungslinien und die Produktentwicklung erfordert außerdem spezialisiertes Personal und eine Transformation des Managementstils. Nicht zuletzt führt der Hype, der in den letzten Jahren rund um das Thema maschinelles Lernen entstanden ist, bei Unternehmen leicht zu einem blinden Glauben an alles, was „intelligent“ im Namen trägt. Dies verlangt den Entscheidungsträgern ein hohes Maß an kritischer Analysefähigkeit ab.
Je mehr Industrie 4.0Teil unseres Alltags wird, umso mehr neue Anwendungsmöglichkeiten werden sich auch ergeben, die heute noch nicht absehbar sind. Insbesondere werden monotone Tätigkeiten der Vergangenheit angehören, wenn das Internet der Dinge sich lückenlos durchsetzt und autonomes Fahren zur Selbstverständlichkeit wird. Wird sich unter dem Einfluss von Industrie 4.0 die Arbeit der Zukunft auf die IT-Branche oder die Datenanalyse konzentrieren? Werden Menschen dann viel mehr Zeit zur Verfügung haben, die es auszufüllen gilt? Und wie wird sich das Verhältnis von Mensch zu Mensch und Mensch zu Maschine weiterentwickeln? Wir stehen an der Schwelle zum dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, und obwohl die Menschheit auf diese Fragen noch keine Antwort hat, ist sicher, dass Industrie 4.0 eines der großen Zukunftsthemen bleibt.
Wang Dong'an ist Doktorand an der University of Sydney.Zu seinen Forschungsfeldern gehören bildgebende Verfahren in der Medizin, künstliche Intelligenz, Neurologie und die Videoanalyse und weitere Bereiche. Außerdem widmet er sich der Anwendung von KI-Technologien in realen Systemen. Er hat bei internationalen Konferenzen wie der "CVPR" und der "ECCV (European Conference on Computer Vision)" Beiträge veröffentlicht und arbeitet seit vielen Jahren als Gutachter für wissenschaftliche Publikationen u.a. für Organisationen wie die "IEEE Transactions on Circuits and Systems for Video Technology" und die "IEEE Transactions on Multimedia" sowie für internationale Fachkonferenzen wie die "ICML (International Conference in Machine Learning)" und die "AAAI-Konferenzen (Association for the Advancement of Artificial Intelligence)".Wang verfügt über mehr als fünf Jahre Erfahrung als Entwickler auf den Gebieten des maschinellen Lernens und des computerbasierten Sehens (Computer Vision). Er hat an Entwicklungsprojekten mit Unternehmen und Institutionen aus China, den USA und Australien mitgearbeitet. Zu seinen Tätigkeitsfeldern gehören Handlungserkennung mithilfe von Mehrwinkelvideokanälen, Verkehrsvorhersagen auf der Grundlage von Videoüberwachung der Verkehrslage sowie automatisierte Computertomographiesysteme.