Fragen von Marcel Consée, Mouser Electronics
Frage: Wenn man sich die derzeitige Technologieentwicklung ansieht, welche Geschäftsbereiche werden Ihrer Meinung nach in den kommenden fünf Jahren am ehesten umfassend auf Künstliche Intelligenz (KI) setzen?
Antwort: Um das herauszufinden, muss man sich mit den Themen Geld und Daten beschäftigen. Unternehmen setzen die Künstliche Intelligenz normalerweise zur Effizienzsteigerung ein, entweder, um den Umsatz zu steigern oder die Kosten zu senken.
Daten erwecken die Künstliche Intelligenz zum Leben, ohne Daten gibt es keine KI. Veränderungen werden also zunächst dort stattfinden, wo Daten sind.
Ausgehend von diesen Überlegungen kommen zwei Geschäftsbereiche mit direktem Kundenkontakt ins Spiel: Vertrieb und Marketing. In diesen Abteilungen kommt die KI vermutlich am ehesten zum Einsatz. Zum einen, weil diese Bereiche direkten Einfluss auf den Umsatz nehmen, und zum anderen, weil sie ein Interesse daran haben, das Verhalten ihrer Kunden besser zu verstehen. Sie wollen wissen, wer die Website besucht hat, wer ein Whitepaper heruntergeladen hat, wer mit einem Vertriebsmitarbeiter gesprochen hat, wann und weshalb jemand die Produkte, die er in seinen Warenkorb gelegt hat, doch nicht kauft. Die KI nimmt automatisch eine Leadqualifizierung vor und fordert Vertriebsmitarbeiter im richtigen Zeitpunkt dazu auf, potenzielle Kunden zu kontaktieren. Außerdem kann sie dabei helfen, personalisierte Inhalte und Nachrichten für die jeweiligen Kunden bereitzustellen und Kundenbedürfnisse zu prognostizieren. Im Hinblick auf die Künstliche Intelligenz stellen Vertrieb und Marketing zudem ein relativ geringes Risiko dar, denn die Einführung der KI in diesen Bereichen würde nicht allzu viele Änderungen in anderen Geschäftsfunktionen erfordern.
Auch der Kundenservice steht hier in engem Zusammenhang und sollte nicht außer Acht gelassen werden. Wenn Unternehmen schon Daten erheben, um das Kundenverhalten besser nachvollziehen zu können, dann sollten die Erkenntnisse aus Vertrieb und Marketing auch zur Optimierung des Kundenservices genutzt werden. Denn eines sollte man nie vergessen: Eine langfristige Kundenbindung verbessert den Customer Lifetime Value. Für ein Unternehmen ist es deutlich einfacher, einen Bestandskunden glücklich zu machen und in einen treuen, langjährigen Kunden zu verwandeln, als neue Kunden zu gewinnen. Obwohl virtuelle Berater derzeit echte Berater noch nicht ersetzen können, so sind sie doch rund um die Uhr im Einsatz und verkürzen damit die Reaktionszeit.
Ein weiterer Geschäftsbereich, der bezüglich der KI-Einführung ins Auge fällt, ist die Lieferkette, denn dieser Bereich wird ohnehin stetig durchleuchtet und zur Leistungs- und Produktivitätssteigerung aufgefordert. Dank Edge Computing (oder "AI at the Edge") lassen sich Analysen beschleunigen und Entscheidungen zeitnah von lokalen Edge-Computern treffen, ohne dass alle Daten zur Verarbeitung an einen zentralen Server und dann wieder zurück übertragen werden müssen. Dies reduziert die Latenzzeit erheblich.
Die Einführung der KI in der Lieferkette ermöglicht stark rationalisierte Abläufe und eine erhöhte Genauigkeit, beispielsweise durch den Einsatz von Robotik und Software zur Anomalie-Erkennung in der Fertigung. So wie die Künstliche Intelligenz in Vertrieb und Marketing die Bedürfnisse der Kunden prognostizieren kann, so kann sie in der Lieferkette in größerem Umfang für ein besseres Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sorgen. Und diese Möglichkeiten beschränken sich nicht nur auf materielle Güter. Energieunternehmen beispielsweise interessieren sich zunehmend dafür, Nachfrageprognosen in Echtzeit zu erstellen, um einen Mehrverbrauch vorherzusagen und ihre Stromnetze für die Nutzung von Ökostrom zu optimieren.
Außerdem umgeht man viele Risiken in Bezug auf den Datenschutz in der Lieferkette, da die meisten Informationen durch Prozesse oder Maschinen und nicht durch personenbezogene Daten generiert werden. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sollte man sich auch vor Augen führen, dass eine gut gesteuerte, robuste Lieferkette eine Geheimwaffe ist, mit der man sich von einem wirtschaftlichen Abschwung schnell erholen kann. Unternehmen, die die Künstliche Intelligenz zu spät einführen, werden dabei das Nachsehen haben.
Frage: Welche technischen Fortschritte sind notwendig, um den Einfluss der Einführung der KI in diesem Zeitfenster zu optimieren?
Antwort: Für die Einführung der Künstlichen Intelligenz müssen wir meiner Meinung nach nicht auf ein Wunder warten und von einer unbekannten zukunftsweisenden Technologie träumen. Wir müssen lediglich die Datennutzung demokratisieren.
Cloud Computing hat dabei in gewisser Weise schon geholfen, aber sobald mehr 5G-Netze zur Verfügung stehen, wird Edge Computing die Einführung der KI überall beschleunigen. Da Edge-Computer normalerweise preiswert sind, wird der Zugang zu Künstlicher Intelligenz noch einfacher.
Trotzdem muss in einigen Unternehmen noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Manche Führungskräfte denken leider noch immer, dass sie über Daten verfügen, nur weil sie auf ihrem iPad ein Tableau-Dashboard haben.
Als Grundlage für die Einführung der künstlichen Intelligenz ist eine Infrastruktur erforderlich, die den Datenfluss ermöglicht. Ähnlich wie ein Wasserhahn: Wasser ist immer da, wenn man es braucht. Eine Datenpipeline oder -infrastruktur ist vor allem für Unternehmen wichtig, deren Daten bis zu 80 % unstrukturiert sind. Um von den beeindruckenden Möglichkeiten der KI zu profitieren, sollte ein Unternehmen zunächst über die richtige Architektur verfügen, mit der Daten aus mehreren Quellen erfasst und aufgenommen werden können, unabhängig davon, ob es sich um strukturierte oder unstrukturierte Daten handelt. Mit einer solchen Architektur lassen sich Daten schnell und nach Bedarf verarbeiten und verschieben. Dadurch erhält man Einblicke und Analysen, die das das Unternehmen voranbringen.
Ein weiteres Problem, dem Unternehmen bei der Einführung der KI oftmals gegenüberstehen, stellt der Mangel an Fachkräften dar. Das macht AutoML oder Künstliche Intelligenz als Service (AIaaS) noch wichtiger. Diese Technologien erlauben es Unternehmen, zunächst zu experimentieren und die Wirksamkeit zu beweisen, bevor sie in umfangreiche KI investieren.
Frage: Die Lernfähigkeit der KI hängt ja von der Menge und Qualität der verfügbaren Daten ab. Was ist also nötig, damit diese Daten so neutral und unvoreingenommen wie möglich bleiben? Müssen wir rekursive KI verwenden, um den Input für die primäre Künstliche Intelligenz zu „bereinigen“?
Antwort: Das ist eine schwierige Frage. Selbst ein perfekt trainiertes Modell, das eine erstklassige Leistung erbringt, kann seine Aktualität verlieren, und es kann zu einem sogenannten „Concept Drift“ kommen. Ein Concept Drift bezeichnet die unvorhersehbare Änderung der Beziehung zwischen Eingabe- und Ausgabedaten, was Einfluss auf die Genauigkeit der „Vorhersage“ des Modells hat.
Wird die Künstliche Intelligenz außerdem mit tiefen neuronalen Netzwerken (deep neural networks, DNN) trainiert, die über viele versteckte Ebenen verfügen, kann der Mensch nicht mehr nachvollziehen oder erklären, wie ein DNN zu seiner Schlussfolgerung kommt. Wir nennen das Black-Box-KI. Die Lösung besteht daher nicht darin, eine weitere Künstliche Intelligenz zu schaffen, sollte die erste nicht funktionieren, wenn dann beide nicht zu verstehen sind. Glücklicherweise arbeiten viele Forschende an Tools, mit denen sich die KI selbst erklären kann. Deshalb ist die erklärbare Künstliche Intelligenz im Bereich des maschinellen Lernens auch auf dem Vormarsch, denn sie soll KI-Teams bei der Entwicklung interpretierbarer und integrativer Modelle unterstützen.
Bislang haben wir uns hauptsächlich auf die Einordnung durch den Menschen verlassen. Die beste Antwort auf diese Frage sind also wir Menschen.
Menschen, die an KI-Projekten arbeiten, sollten sich möglicher Verzerrungsprobleme bewusst sein und so viele unvoreingenommene Daten wie möglich sammeln. Sollten Menschen aufgrund des Trainingsprozesses eine Verzerrung im Datensatz feststellen, müssen sie die Verzerrung im Datensatz auf null setzen. Außerdem sollten KI-Teams ihre Projekte oder Produkte transparenter gestalten und zusätzlichen Prüfungsprozessen unterziehen, damit Probleme möglichst frühzeitig erkannt werden. Unterschiedliche Testdatensätze sind sehr wichtig, um zu gewährleisten, dass ein System nicht voreingenommen ist. So wird sichergestellt, dass das System „auf dem neuesten Stand“, fortlaufend und konstant ist.
Wir sind nun einmal Menschen und sind somit alle in gewisser Weise voreingenommen. KI-Teams mit großer Diversität können sich gegenseitig kontrollieren und eine Voreingenommenheit bei anderen eher bemerken und aufdecken.
Vielleicht können wir die KI auch darin schulen, die Daten zur Einordnung von Menschen zu untersuchen, um Anomalien zu finden und auf etwaige Inkonsistenzen hinzuweisen.
Frage: Ist es möglich, feste ethische Richtlinien in eine lernende KI aufzunehmen, sodass diese dann in der Lage ist, ihren eigenen Code neu zu schreiben? Und ist das überhaupt wünschenswert angesichts der unterschiedlichen Wertesysteme der verschiedenen industriellen Gesellschaften?
Antwort: Keine Angst, wir sind noch sehr weit davon entfernt, dass die Künstliche Intelligenz sich selbst programmiert und wir die Kontrolle darüber verlieren könnten.
Es ist zwar wichtig, dass wir strenge ethische Richtlinien haben, die von der Weltgemeinschaft vereinbart werden, wie etwa der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Es ist allerdings unrealistisch zu glauben, dass sich jede Person, jedes Unternehmen und jede Organisation auf die gleichen Details und Regeln einigen würde, da jeder seine ganz eigenen Absichten verfolgt.
Wenn ich irgendwann stolze Besitzerin eines selbstfahrenden Autos bin (obwohl wir dann wahrscheinlich gar keine Autos mehr besitzen müssen), würde ich wahrscheinlich dem Auto die Entscheidung nicht selbstständig überlassen wollen, einem Hund auszuweichen, der die Straße überquert, wenn es mich bei diesem Manöver töten würde. Aber würde ich mich als Fahrzeughalterin moralisch wohlfühlen, wenn ich wüsste, dass mein Auto ohne zu zögern einen Hund überfahren würde? Oder würde ich ein Auto von einem Hersteller kaufen, dessen Fahrzeug aus ethischen Gründen so konstruiert wurde, dass es ein Baby in einem Kinderwagen nicht überfahren würde, wenn es stattdessen aber mich töten könnte? Ich bin mir da nicht so sicher. Natürlich handelt es sich hier um das bekannte Trolley-Problem.
Auch wenn wir Regeln hätten, würden diese im Hinblick auf Künstliche Intelligenz nicht funktionieren. Sehen wir uns doch einfach nur unsere Sprache an: Es gibt nicht das „beste Deutsch“, da sich die Sprache durch uns Menschen fortwährend auf natürliche Weise verändert. Niemand beachtet wirklich alle Grammatikregeln.
Genauso entwickelt sich die KI mithilfe der Daten, mit denen sie trainiert wird.
Eine auf Regeln basierende KI kann nicht skaliert werden, denn es ist unmöglich, alle vorhandenen Regeln niederzuschreiben. Die Künstliche Intelligenz ist so konzipiert, dass sie alle Möglichkeiten auslotet, um die beste Optimierungsstrategie zu finden. Sie ist darauf ausgelegt, Lücken zu finden. Je mehr Regeln wir niederschreiben, desto mehr Lücken findet die KI.
Ich denke, der moralische Wert wird sich in der Designphilosophie der Produkte widerspiegeln, die ein Unternehmen kreiert. Letztlich entscheidet der Verbraucher dann mit seinem Kauf. Vielleicht ist das aber ein naiver und kapitalistischer Gedanke.
Der Staat spielt nach wie vor eine wichtige Rolle. Normalerweise versteht er neue Technologien jedoch nicht schnell genug, um sie richtig regulieren zu können. Wir brauchen die Regierungen der globalen Gemeinschaft, um ein modernes Abkommen der „Nichtverbreitung von KI-Waffen“ festzulegen, mit dem Unterschied, dass dieses Abkommen tatsächlich der Regulierung des Menschen dient.
Charlotte Han verarbeitet Daten und berechnet Marken- und Digitalstrategien für den Lebensunterhalt. Sie hat ihre Kindheit in Asien verbracht, wurde im Silicon Valley zur Amerikanerin und lebt heute in Europa. Aufgrund dieser Erfahrungen hat sie gelernt, Dinge nicht als selbstverständlich zu betrachten und Verbindungen herzustellen, bei denen sie möglicherweise nicht offensichtlich erscheinen.
Sie interessiert sich sehr für alles, was mit Technologie zu tun hat, insbesondere dafür, wie Technologien das menschliche Leben voranbringen können. Sie liebt es, sich mit den Außenseitern, den Rebellen und den Unruhestiftern zu vernetzen, die keine Angst haben, die Dinge durcheinander zu bringen und die Grenzen des Möglichen zu erweitern.